Vermittlung von Sportwetten
Leitsatz
1. Es bestehen erhebliche Bedenken, ob die derzeitige Ausgestaltung des Sportwettenrechts in Hessen verfassungsgemäß und mit dem EU-Recht vereinbar ist.
2. Angesichts dieser Zweifel kann ein Verbot, private Sportwetten an im EU-Ausland konzessionierte Anbieter zu vermitteln, nicht per sofortiger Vollziehung durchgesetzt werden.
Tenor
In dem Verwaltungsstreitverfahren (…)
wegen Ordnungsrechts
hat das Verwaltungsgericht Gießen -10. Kammer - durch (…) am 13. Oktober 2006 beschlossen:
1. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 3. September 2006 gegen die Verfügung des Antragsgegners vom 28. August 2006 wird hinsichtlich der Nummern 1 und 2 wiederhergestellt und hinsichtlich der Nummer 4 angeordnet.
2. Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsgegner zu tragen.
3. Der Streitwert wird auf 7.575,00 Euro festgesetzt.
Sachverhalt
(vgl. Entscheidungsgründe)
Entscheidungsgründe
1.
Der am 4. September 2006 bei Gericht eingegangene Antrag, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Verfügung des Antragsgegners vom 28. August 2006 wiederherzustellen bzw. anzuordnen, ist zulässig und begründet.
Gemäß § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen einen sofort vollziehbaren Verwaltungsakt auf Antrag eines Betroffenen ganz oder teilweise wiederherstellen, in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen.
Ein solcher Antrag ist begründet, wenn das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts gegenüber dem privaten Interesse des Antragstellers, die Vollziehung bis zur Entscheidung über seinen Rechtsbehelf hinauszuschieben, nicht überwiegt. Dies ist dann der Fall, wenn der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist. Denn an der sofortigen Vollziehung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts kann kein vorrangiges öffentliches Interesse bestehen. Umgekehrt ist der Rechtsschutzantrag abzulehnen, wenn der angefochtene Verwaltungsakt rechtmäßig und seine Vollziehung eilbedürftig ist.
Nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung der Sachlage überwiegen die Interessen der Antragstellerin gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit der angefochtenen Verfügung.
Der Antragsteller betreibt in der Gemeinde Gladenbach ein Vermittlungsbüro für Sportwetten, das er am 24. März 2006 ordnungsgemäß bei der Gemeinde anmeldete. Der Antragsteller vermittelt Sportwetten an das Unternehmen (…), Ltd. Malta, wobei er für seine Dienste eine Vergütung erhält. Das Unternehmen (…) besitzt eine ab dem 1. März 2005 und auf fünf Jahre geltende Genehmigung der maltesischen Behörde, Sportwetten zu veranstalten.
Die angegriffene Ordnungsverfügung, mit der der Antragsgegner auf der Grundlage des § 11 HSOG i.V.m. § 12 Abs. 1 Staatsvertrag zum Lotteriewesen in Deutschland (Lotteriestaatsvertrag) in Nr. 1 umfassend die Möglichkeit des Angebots von kommerziellen Sportwetten durch Verbot des Anbietens, der Vermittlung, der Bereitstellung von Einrichtungen oder der Werbung durch die Antragstellerin verhindern will, und in Nr. 2 die Entfernung der zur Ausübung der Tätigkeiten genutzte Geräte anordnet, ist nach derzeitigem Rechtsstand weder als eindeutig rechtmäßig noch als rechtswidrig zu erkennen.
Hierbei ist entsprechend der zutreffenden Argumentation des Antragstellers im Wesentlichen darauf abzustellen, dass die mit der angegriffenen Verfügung verbotene Tätigkeit des Vermittelns von Sportwetten an Veranstalter, die über eine Konzession von Mitgliedstaaten der Europäischen Union verfügen, der Vorschrift des Art. 49 EG-Vertrag unterfällt (vgl. VG Gießen, U.v. 21.11.2005 - 10 E 872/05 -; Hess. VGH, B.v. 09.02.2004 - 11 TG 3060/03 -, GewArch 2004, 153, und vom 27.10.2004 -11 TG 2096/04 -, NVwZ 2005, 99; a.A. Bay. VGH, U.v. 10.07.2006 - 22 BV 05.457 -, bei möglicher Beschränkung der ausländischen Konzessionen auf das jeweilige Land). Insoweit sind § 284 StGB, die Normen des Lotteriestaatsvertrages und die §§ 1 und 5 SpW/LottoG als dem europarechtlichen Recht widersprechend und auf diese besondere Fallkonstellation nicht anwendbar anzusehen.
Der Hessische Verwaltungsgerichtshof vertritt indes in seinen Entscheidungen vom 25. Juli 2006 (Az.: 11 TG 1465/06), 14. September 2006 (Az.: 11 TG 1653/06, ZfWG 2006, 240) und - bestätigend - vom 20. September 2006 (Az.: 11 TG 1654/06) nunmehr die Ansicht, nicht nur im nationalen Bereich, sondern auch im Verhältnis zu Wettanbietern aus Ländern der Europäischen Union sei ein Eingriff in die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit des ausländischen Wettanbieters für eine Übergangszeit zu tolerieren, da die (…) mbH Hessen aus Gründen der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in seiner Entscheidung vom 28. März 2006 (- 1 BvR 1054/01 -, NJW 2006,1261) Maßnahmen eingeleitet habe, die zu einer Begrenzung des staatlichen Wettangebots führten.
Bereits das Bundesverfassungsgericht habe unter diesen Voraussetzungen die Vereinbarkeit der nationalen Bestimmungen zum Zwecke der Untersagung der privaten Veranstaltungs- und Vermittlungstätigkeit von Sportwetten während der von ihm eingeräumten Übergangsfrist auch mit Gemeinschaftsrecht festgestellt. Daraus folge, so der Hessische Verwaltungsgerichtshof, dass trotz bestehender Bedenken aufgrund der inzwischen eingeleiteten Maßnahmen der staatlichen Wettanbieter die Einschränkung gemeinschaftsrechtlicher Grundfreiheiten durch eine zeitlich begrenzte Fortgeltung des kollidierenden nationalen Rechts nicht unverhältnismäßig sei.
Ob dieser Rechtsansicht zu folgen sein wird, ist zweifelhaft, weil die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bislang die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Rechtsfigur der Einräumung von Übergangsfristen bei verfassungswidrigen Normen nicht in einem einzigen Fall übernommen hat und diese Rechtsfigur dem europäischen Recht fremd ist (vgl. Vallone/Dubberke, GewArch 2006, 240; VG Potsdam, U. v. 11.09.2006 - 3 L 312/06 -, ZfWG 2006, 253).
Hiergegen argumentiert der Hessische Verwaltungsgerichtshof in dem zitierten Beschluss vom 20. September 2006, zwar habe sich der EuGH noch nicht ausdrücklich dazu geäußert, ob eine Bestimmung des nationalen Rechts, die selbst oder in ihrem Vollzug mit Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist, vorübergehend angewendet werden dürfe, um eine schrittweise Anpassung an die Anforderungen des Gemeinschaftsrechts zu ermöglichen.
Allerdings habe der EuGH mehrfach betont, dass der Vorrang des Gemeinschaftsrechts die Befugnis der nationalen Gerichte unberührt lasse, bei festgestellten Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht unter mehreren nach der innerstaatlichen Rechtsordnung in Betracht kommenden Wegen diejenigen zu wählen, die zur Um- oder Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts geeignet erscheine (EuGH, Urteile vom 04.04.1968 - Rs. 34-67- <l ück>, und vom 22.10.1998 - C-10/97 - u.a. -, EuZW 1998, 719 [720] <in srl u.a.>). </in></l>
Bezüglich des Ausschlusses privater Anbieter von der Veranstaltung und Vermittlung von Sportwetten habe der EuGH überdies den Mitgliedstaaten ausdrücklich auch das Recht eingeräumt, durch Schaffung eines staatlichen Monopols eine private wirtschaftliche Betätigung in diesem Bereich vollständig zu unterbinden, sofern dies durch zwingende Gründe des allgemeinen Wohls gerechtfertigt und das Handeln des Staates tatsächlich (nur) auf die Verfolgung dieser Gemeinwohlbelange ausgerichtet sei.
Dies schließe die Befugnis ein, auch während des Übergangs zu einem diesen Erfordernissen entsprechenden rechtlichen und tatsächlichen Zustand unter vorübergehender Anwendung des geltenden Rechts keine private Betätigung bei der Veranstaltung und Vermittlung von Sportwetten zuzulassen, wenn durch die Zulassung privater Veranstalter und Vermittler die auf die Herbeiführung eines gemeinschaftskonformen staatlichen Sportwettenmonopols ausgerichtete Konzeption des Staates gefährdet und hierdurch eine - nicht anders auszuräumende - erhebliche Gefährdung wichtiger Allgemeininteressen herbeigeführt würde, die deutlich schwerer wiege als die Beeinträchtigung der gemeinschaftsrecht-lich verbürgten Grundfreiheiten der durch die staatlichen Maßnahmen betroffenen Anbieter. Unter diesen - engen - Voraussetzungen erweise sich die Einschränkung gemeinschaftsrechtlicher Grundfreiheiten durch eine zeitlich begrenzte Fortgeltung des mit Gemeinschaftsrecht kollidierenden nationalen Rechts nicht als unverhältnismäßig.
Die Kammer hat bereits Bedenken, ob die konkrete Ausgestaltung des nationalen Glücksspiels diesen dargestellten Anforderungen des Europäischen Gerichtshofs genügt. Denn soweit in Hessen das staatliche Monopol in der Rechtsform "konzessionierter" privatrechtlicher Gesellschaften betrieben wird, stellt sich europarechtlich betrachtet bereits die Frage, inwieweit ausländische staatlich konzessionierte privat-rechtliche Anbieter sich hiervon unterscheiden sollen. Dem kann die Kammer im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens jedoch nicht weiter nachgehen.
Auch die aufgeworfenen Fragen zur Möglichkeit, vorübergehend aus übergeordneten staatlichen - eventuell auch fiskalischen - Gründen den erkannten Gemeinschaftsrechtsverstoß hinzunehmen und damit stillschweigend oder auch ausdrücklich (so OVG Nordrhein-Westfalen, B.v. 28.06.2006 - 4 S 961/06 -) den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts zu suspendieren (dagegen: VG Schleswig, B. v. 23.08.2006 - 12 B 43/06 -, ZfWG 2006, 265; VG Dresden, B. v. 16.08.2006 - 14 K 2239/05 -, ZfWG 2006, 262) und der Anwendbarkeit des § 284 StGB zur Begründung eines Verstoßes gegen das Ordnungsrecht durch die Vermittlung von Sportwetten sowie die damit einhergehende Möglichkeit der Verhinderung des weiteren Tätigwerdens sind indes von derart komplexer Gestalt, dass hiermit das Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes überfrachtet würde.
Insbesondere ist es nicht möglich, bezüglich der von dem Antragsteller vorgetragenen Tatsachenbehauptungen, die der angenommenen Selbstbeschränkung der staatlich konzessionierten Wettanbieter hinsichtlich Werbung und Angebot auch an Minderjährigen deutlich widersprechen, außerhalb eines Hauptsacheverfahrens Beweisaufnahmen durchzuführen.
Doch weisen die vorgelegten Unterlagen darauf hin, dass von einer konsequenten Ausrichtung des bestehenden Monopols auf die Begrenzung der Wettleidenschaft und der Bekämpfung der Wettsucht angesichts der überragenden fiskalischen Interessen bei sachgerechter Betrachtung "aller staatlich konzessionierter Spielangebote -Zahlenlotto, Toto, Spielbanken, etc. - nicht in jedem Fall gesprochen werden kann.
Dabei muss auch berücksichtigt werden, dass die Einführung der "staatlichen" Sportwettangebote erst vor einigen Jahren erfolgte und es zuvor auch möglich erschien, ganz ohne derartige Angebote die Spielsucht der Bevölkerung zu beschranken oder zu kanalisieren.
2.
Indes ist auch dann, wenn von einer Rechtmäßigkeit der Grundverfügung - hier Nr. 1 und 2 der angegriffenen Verfügung - ausgegangen werden sollte, im vorliegenden Fall die Eilbedürftigkeit des Verbots und der Stillegung oder Entfernung der verwendeten Geräte etc. zu verneinen.
Der Antragsgegner führt insoweit in der angegriffenen Verfügung u.a. aus, das öffentliche Interesse erfordere die sofortige Vollziehung der Verbotsverfügung. Bis zu einer Entscheidung des Gesetzgebers sei es erforderlich, einen Zustand zu schaffen, der den berechtigten Zielen des § 1 Lotteriestaatsvertrags besser entspreche als der bisherige Zustand. Eine große Zahl von illegalen Sportwettbüros führe zu erheblichen Gefährdungen für die Bevölkerung. Ein sofortiges Verbot sei erforderlich, damit Dritte nicht ebenfalls durch die Vorbildwirkung der bestehenden Büros solche Vermittlungstätigkeiten aufnehmen würden. Die privaten Interessen der Antragstellerin an der Fortsetzung der Vermittlungstätigkeit bzw. die Interessen des ausländischen Veranstalters müssten hinter diesen öffentlichen Interessen zurückstehen.
Die Betroffenen seien nämlich trotz Kenntnis der möglichen Folgen der Unterbindung der unerlaubten Vermittlungstätigkeit tätig geworden. Den Sportwettanbietern und damit auch der Antragstellerin sei es möglich gewesen, vor Aufnahme des Gewerbes eine behördliche Erlaubnis zu erstreiten.
Diese Begründung überzeugt nicht.
Die öffentlichen Interessen an dem Sofortvollzug der Ordnungsverfügung sind damit nicht hinreichend dargetan. Die Anordnung des Sofortvollzugs nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO soll nach der gesetzlichen Konstruktion die Ausnahme zu § 80 Abs. 1 VwGO darstellen. Deshalb ist es erforderlich, dass besondere Gründe, die nicht bereits zur Grundverfügung selbst führten oder diese bedingten, für die Aufhebung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs vorliegen und in der Verfügung dargestellt werden.
Die vom Hessischen Verwaltungsgerichtshof vertretene These, aus dem Umstand, dass die unerlaubte Vermittlung von Sportwetten nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in der Übergangszeit als ordnungsrechtlich verboten angesehen werden dürfe, ergebe sich unabhängig von der Möglichkeit der strafrechtlichen Verfolgung zugleich ein besonderes öffentliches Interesse an der Vollziehung und es bedürfe keines Nachweises besonderer Gefahren für die Allgemeinheit durch die Fortführung der unerlaubten Betätigung, sieht das Gericht nicht als durchgreifend.
Denn damit wird im Ergebnis zunächst allein die Grundverfügung, hier die Untersagung der Vermittlung, begründet Gründe dafür, warum dies unverzüglich und ohne die Möglichkeit der Einräumung des Suspensiveffektes für die Zeit einer behördlichen oder gerichtlichen Überprüfung erfolgen muss, ergeben sich daraus ohne das Hinzutreten besonderer Gründe des Einzelfalls nicht.
Zumindest dürfen die unstreitig vorhandenen gewichtigen privaten Interessen des betroffenen Gewerbetreibenden nicht außen vor bleiben, sondern müssen vertieft abgewogen und dürfen nicht - wie geschehen - pauschal abgewertet werden. Hier sind zunächst die vom Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung vom 28. März 2006 eindeutig bejahten Grundrechtsverstöße durch das bestehende Wett- und Spielmonopol zu berücksichtigen.
Ausgehend von dem Grundrecht auf freie Berufswahl und -ausübung und einer in der Bundesrepublik Deutschland bestehenden Gewerbefreiheit ist festzustellen, dass von einer großen Zahl von Straf- und Verwaltungsgerichten die Anwendung der nationalen Regelungen bereits für die zurückliegenden Jahre als verfassungswidrig und / oder gegen europarechtliche Bestimmungen verstoßend erkannt wurden.
Sei der Vielzahl dieser Entscheidungen mit dem Tenor, das Vermitteln von Wetten an im EU-Ausland konzessionierte Spielveranstalter sei nicht sanktionierbar (vgl. zuletzt OLG München, U.v. 26.09.2006 - 5 St RR 115/05 -, m.w.N.), erscheint es kaum vertretbar, dem betroffenen Gewerbetreibenden, der sich auf sein Grundrecht der freien Gewerbeausübung beruft, vorzuhalten, er habe sich bewusst in eine Situation begeben, die mit dem Risiko jederzeitiger Schließung verbunden sei. Zumindest in Hessen musste nach dem Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 9. Februar 2004 (Az. 11 TG 3060/03) bei den hiervon Betroffenen von der Möglichkeit der legalen Vermittlung von Sportwetten an entsprechende Anbieter ausgegangen werden.
Es erscheint zwar gleichwohl vertretbar anzunehmen, dass sich der Gewerbetreibende von vornherein darauf hätte einstellen können, dass im Fall der rechtlichen Bestätigung des staatlichen Monopols bzw. der Einräumung einer Übergangsfrist zur verfassungskonformen Ausgestaltung dieses Monopols die Fortführung der unerlaubten Vermittlungstätigkeit unverzüglich unterbunden würde.
Dies gilt aber nur dann, wenn dem Ansatz gefolgt wird, es sei erkennbar - oder gar vorhersehbar - gewesen, dass das Bundesverfassungsgericht aus übergeordnetem staatlichen Interesse den bejahten Grundrechtsverstoß für eine Übergangszeit als hinnehmbar erklären würde.
Dies ist aber gerade nicht zwingend und die Einräumung einer Übergangsfrist wird von dem Bundesverfassungsgericht auch nicht in jedem Fall praktiziert.
Unberücksichtigt bleibt bei dieser Argumentation aber vor allem, dass im vorliegenden Fall der Vermittlung von Sportwetten im Bereich der Europäischen Union gerade der gemeinschaftsrechtliche Aspekt eine andere Sichtweise geradezu aufdrängte, nämlich aufgrund der - zunächst auch in der Rechtsprechung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs bejahten - Unvereinbarkeit der nationalen Regelungen gegen Vertragsregelungen der Europäischen Union. Auch bei solchen Inkompatibilitäten eine Übergangsfrist einzuräumen, konnte weder von den Betroffenen vorausgesehen werden noch musste sich ihnen im Vorfeld der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ein entsprechender Wechsel der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte aufdrängen.
Deshalb kann dem Interesse des Antragstellers an der einstweiligen Fortsetzung des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs der Vermittlung von Sportwetten nicht entgegengehalten werden, bei Eröffnung des Gewerbebetriebes bzw. Geschäftszweiges mit den Internet-Terminals hätte ihm bewusst sein müssen, dass die von ihm aufgenommene Tätigkeit strafbewehrt sei. Ein solcher Vorbehalt könnte allenfalls dann gerechtfertigt sein, wenn die Gewerbetätigkeit in einem Zeitpunkt nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. März 2006 aufgenommen worden wäre, was hier nicht der Fall ist.
Erforderlich ist somit eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung, ob das private Interesse des Betroffenen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der Verbotsverfügung weichen muss. Ein pauschaler und durch keine weiteren Tatsachen gestützter Vorwurf, allein das Eröffnen oder Betreiben des inkriminierten Geschäftes sei bereits ausreichend, ein Interesse des Gewerbetreibenden am weiteren Bestand seines Unternehmens zu verneinen, berücksichtigt in keiner Weise ausreichend die komplexen und umstrittenen Probleme der bestehenden Grundrechtsbeeinträchtigung und der allgemeinen bejahten Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht.
Hierbei sind vor allem die weiteren Entwicklungen nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. März 2006 bei der Abwägung heranzuziehen. Nicht ohne Grund stellt die dem Gericht vorliegende Anfrage der Kommission der Europäischen Gemeinschaft vom 4. April 2006 darauf ab, dass durch die Regelungen der Bundesrepublik Deutschland eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung des europäischen Gemeinschaftsrechts vorliegen dürfte und es in diesem Zusammenhang erklärungsbedürftig sei, warum die Kontrollen der Wettanbieter durch staatliche Stellen in der Bundesrepublik Deutschland geeigneter seien als die Überprüfungsinstanzen in den Staaten, die die Veranstalter konzessionierten.
Allein die behaupteten Gedanken des Verbraucherschutzes und der Verhinderung von Verbrechen und Geldwäsche sind nach Ansicht der Kommission in diesem Zusammenhang nicht tragend, da den Mitgliedstaaten andere Möglichkeiten zur Verfügung stünden, derartige Ziele zu verwirklichen. Damit wird zumindest indirekt auch angesprochen und bezweifelt, dass die bislang in der Diskussion stehenden Überlegungen zur möglichen Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch Sportwetten eine tragfähige Begründung für die von den zuständigen Ordnungsbehörden ausgesprochenen Maßnahmen darstellen können.
Die auf Basis dieser Anfrage zu führenden Diskussion über eine mögliche Beeinträchtigung der öffentlichen Belange in der Abwägung zu den Interessen des betroffenen Gewerbetreibenden wird ebenfalls zu berücksichtigen sein, dass auch das Bundeskartellamt nach dem Beschluss vom 23. August 2006 (www.bundeskartellamt.de/wDeutsch/download/pdf/Kartell/Kartell06/B10-148-05.pdf)
die bisherige Praxis der Lotteriegesellschaften der Länder zur Abgrenzung ihrer Tätigkeitsbereiche untereinander und gegenüber Dritten als rechtswidrig ansieht.
Da es sich bei dem Bundeskartellamt um eine öffentliche Behörde der Bundesrepublik Deutschland handelt, kann die in der Entscheidung geäußerte Ansicht, die gegenwärtige Struktur der öffentlich-rechtlichen Veranstalter von Glücks- und Lottospielen in Deutschland sei nicht ordnungsgemäß, bei der Abwägung der öffentlichen Interessen am Fernhalten von privaten Anbietern mit den Zielen der Verhinderung abstrakter Gefahren und den Interessen der privaten Anbieter ebensolcher Dienstleistungen nicht außen vor bleiben.
Mit anderen Worten: Es müsste abgewogen werden, ob die - hier lediglich unterstellte - Rechtswidrigkeit des Betriebes einer Sportwettenvermittlung zur sofortigen Schließung der Betriebsstätte führen kann, wenn auch die staatlich konzessionierten Lotto- und Totogesellschaften sich rechtswidrig verhalten und damit gegen die öffentliche Ordnung verstoßen.
Eine vergleichbare Rechtsansicht wie die Europäische Kommission in ihrer Anfrage vom 4. April 2006 vertritt auch der Generalanwalt beim EuGH Colomer in seinem im Internet veröffentlichten Schlussantrag in den verbundenen Rechtssachen C-338/04, C-349/04 und C-360/04 (Placania u.a.) vom 16. Mai 2006.
Schließlich ist im Bereich der Gefahrenabwehr auch stets gemäß § 4 HSOG der mit Verfassungsrang ausgestatte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme zu berücksichtigen. Wenn das Bundesverfassungsgericht den staatlichen Stellen bzw. den vom Staat konzessionierten Betreibern von Wett- und Spielangeboten zur Vermeidung einer Aufhebung der als grundrechtswidrig erkannten Regelungen aufgeben kann, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten, etwa die Werbung massiv einzuschränken und Angebote zur Verhinderung oder Beschränkung von Spielsucht zu schaffen, so kann dies auch bezüglich der Umsetzung ordnungsrechtlicher Vorschriften als milderes Mittel zum Verbot in Betracht kommen.
Hierbei ist ohne weiteres davon auszugehen, dass auch die privaten Wettanbieter das Angebot auf bestimmte Personengruppen beschranken, die Wetteinsätze begrenzen oder auf Werbung verzichten können. Solche Anordnungen würden dem vom Bundesverfassungsgericht für legitim erklärten öffentlichen Interessen an der Beschränkung der Spielleidenschaft entsprechen und wären gleichförmig zu den vorgetragenen Maßnahmen der staatlichen Monopolstellen.
Entsprechende Abwägungen zum milderen Mittel fehlen in dem angegriffenen Bescheid indes nicht nur im Rahmen der Ermessensbetätigung zur Grundverfügung, sondern auch im Rahmen der Begründung der Anordnung des Sofortvollzugs.
In Abwägung der genannten Einzelaspekte ist deshalb festzustellen, dass das Interesse der Antragstellerin auf einstweilige Fortsetzung des eingerichteten Betriebes und die weitere Möglichkeit der Vermittlung von Sportwetten im dargestellten Umfang das öffentliche Interesse am Sofortvollzug der Maßnahme überwiegt.
3.
Da sich die Anordnung des Sofortvollzugs als rechtswidrig erweist und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs bezüglich der Nr. 1 und 2 in der angegriffenen Verfügung wiederherzustellen ist, ist wegen Fehlens der Voraussetzungen des § 47 Abs. 1 HSOG des Weiteren die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Androhung von Zwangsmitteln in Nr. 4 anzuordnen. Auf die Frage, ob das angedrohte Zwangsmittel der Ersatzvornahrne hinsichtlich der geforderten Unterlassung das zutreffende sein kann, kommt es daher nicht an.
4.
Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsgegner zu tragen, § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die Festsetzung des Streitwerts folgt aus §§ 53 Abs. 3 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG. Die Kammer legt dabei in Ermangelung zuverlässiger Anhaltspunkte für die Bemessung des wirtschaftlichen Interesses der Antragstellerin am Ausgang des Rechtsstreits einen Betrag von 15.000,00 Euro für das Verfahren der Hauptsache zu Grunde. Der für das Hauptsacheverfahren anzusetzende Wert ist mit Rücksicht auf den vorläufigen Charakter des Eilverfahrens auf die Hälfte zu vermindern. Zusätzlich ist ¼ des angedrohten Kostenansatzes für die Zwangsmaßnahmen zu berücksichtigen.